„Die kommenden Jahre sind entscheidend für den Standort Europa“

Experteninterview – 06. Oktober 2022

Interview mit Dr. Heiner Heimes, geschäftsführender Oberingenieur des Lehrstuhls „Production Engineering of E-Mobility Components“ (PEM) der RWTH Aachen.

Kaum hat Europa sein Know-how-Defizit im Batteriebereich beseitigt, steht der nächste Kraftakt an: der massenhafte Produktionsstart. Worauf kommt es jetzt an? Der europaweit erste „Battery Atlas“ des Lehrstuhls „Production Engineering of E-Mobility Components“ (PEM) der RWTH Aachen gibt Aufschluss: Das Werk beleuchtet das Engagement von Zellherstellern, Modul- und Packproduzenten, Zulieferern von Anlagen und Batterie-Aktivmaterial sowie Recycling-Unternehmen und Batterietestzentren. Herausgeber Dr. Heiner Heimes, geschäftsführender Oberingenieur von PEM verrät, wie wir europaweit derzeit aufgestellt sind, wohin die Reise gehen wird und wo noch Nachholbedarf besteht.

In Ihrem „Battery Atlas“ bilden Sie die aktuellen Aktivitäten entlang der gesamten Batterie-Wertschöpfungskette ab. Welche Erkenntnis liefert dieses Werk im Großen und Ganzen?

Grundsätzlich muss ich vorwegschicken: Lithium-Ionen-Batterien zu entwickeln, ist eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe, da sie viele verschiedene Kompetenzen voraussetzt und die Lithium-Ionen-Batterieindustrie sehr schnell wächst und voranschreitet. Europa hat sich in den vergangenen Jahren vor allem darauf konzentriert, den Wissensrückstand gegenüber dem asiatischen Raum zu verringern – durchaus mit Erfolg! Jetzt wird es immer wichtiger, alle diejenigen Herausforderungen zu meistern, die sich aus dem Hochlauf der Produktion unterschiedlicher Batteriezellenserien ergeben. Der „Battery Atlas“ verdeutlicht: Europa hat sich mittlerweile zu einem internationalen Hotspot für diverse Industrien und Branchen entlang der gesamten Wertschöpfungskette der Lithium-Ionen-Batterie entwickelt.

Lange Zeit haben europäische Hersteller sich „geweigert“, in die Produktion von Batteriezellen für Antriebsbatterien zu investieren. Wie sieht es heute aus? Über welche Produktionskapazitäten verfügen wir aktuell in Deutschland und Europa, und womit ist bis 2030 zu rechnen?

2020 wurde in Europa gerade einmal ein Jahresvolumen von knapp 25 Gigawattstunden produziert. Durch die aktuell geplanten Aktivitäten dürfte dieses Fertigungsvolumen in Europa bis 2030 auf gut 1.300 Gigawattstunden steigen. Damit wächst die Produktionskapazität um den Faktor 50. Die neuen Batteriezellfabriken werden allerdings nicht nur von europäischen Herstellern geplant. Es sind ungefähr 60 Prozent, die auf Produzenten und Akteure aus Europa entfallen – womit ein großer Teil der auf unserem Kontinent geplanten Produktionsvolumina von anderen Unternehmen umgesetzt wird, vor allem aus Asien. Die Projekte der asiatischen Unternehmen sind dabei tendenziell deutlich größer als die von europäischen Unternehmen geplanten Batteriezellfabriken.

Welche Batterietypen sind neben Lithium-Ionen-Batterien stark im Aufwind? Und wo kommen sie künftig zum Einsatz?

Sozusagen als „seriennahe Alternativtechnologie“ befindet sich momentan die Natrium-Ionen-Batterie in der Entwicklung. Sie besticht durch niedrige Kosten und nachhaltig verfügbare Rohstoffe. Wegen der schwächeren Energie- und Leistungsdichten sind sie eher für das Einstiegsvolumen-Segment beziehungsweise für stationäre Anwendungen von Interesse.

Welche Produktionskapazitäten benötigen wir, um ausreichend Batterien für den Automobilsektor bereitzustellen?

Wenn wir die steigende Batteriezellen-Nachfrage für den europäischen Markt alleine im Automobilsektor decken wollen, müssten bis zum Jahr 2030 mindestens 900 Gigawattstunden Produktionskapazitäten entstehen.

Welche speziellen Anforderungen unterscheiden Antriebsbatterien von anderen Exemplaren?

An die sogenannten Traktionsbatterien werden sehr hohe Anforderungen in Bezug auf Energiedichten, Leistungsfähigkeit und Kosten gestellt. Durch die mobile Nutzung wird der Akku außerdem mit stark schwankenden Umgebungsbedingungen konfrontiert.

Das Unternehmen Tesla betrachtet die Batterie als Kernkompetenz beim Bau seiner Autos. Bei den deutschen Herstellern war das lange Zeit nicht so. Ändert sich diese Einstellung gerade?

Ja, das ist absolut der Fall. Der Blick in die Industrie unterstreicht das unmissverständlich.

Wie sieht die Entwicklung der europäischen Hersteller aus? Wer sind die Hauptakteure, und wie ist es um die jeweiligen Marktanteile bestellt?

Neben den europäischen Produzenten wollen auch die Hersteller aus Asien und den USA die Batterie-„Welt“ in Europa mitgestalten. Aus Asien drängen vor allem die in ihrer Heimat schon etablierten Zellproduzenten auf den europäischen Markt. Im Gegensatz zu den Akteuren aus Asien, die sich hauptsächlich auf die Fertigung von Zellen konzentrieren, gibt es auf dem europäischen Markt viele Kooperationen und Joint Ventures von großen Automobilherstellern mit Zellproduzenten. Darüber hinaus entstehen in Europa immer wieder Start-up-Unternehmen, die ihre Kernkompetenz in der Batterieindustrie ausbauen.

Worin liegen derzeit noch die größten Hindernisse für europäische Produktionsprozesse?

Bislang hat nur eine Minderheit der Unternehmen eine Batteriezelle in Europa produziert, und einige Planungsprojekte wurden bereits eingestellt. Die kommenden Jahre sind entscheidend für die Entwicklung des Standorts Europa im Batteriebereich – und damit natürlich auch für die Wettbewerbsfähigkeit einer Batteriezelle aus Europa selbst. Die zahlreichen Spezialisten des europäischen Maschinen- und Anlagenbaus sollten sich in den nächsten Jahren weiter fokussieren, um den Markt nicht den dominierenden asiatischen Anlagenlieferanten zu überlassen. Die meisten Maschinenzulieferer für die Herstellung von Batteriezellen kommen aktuell aus Asien und sind bereits mit gefüllten Auftragsbüchern ausgelastet. Infolgedessen werden europäische Batteriezellenhersteller und OEMs, die in den Markt eintreten wollen, voraussichtlich mit Lieferengpässen konfrontiert, die ihren Produktionshochlauf gefährden. Die Sicherung der Anlagentechnik ist ein kritischer Erfolgsfaktor. Darüber hinaus werden Kriterien wie Nachhaltigkeit und Qualität im Beschaffungsprozess immer wichtiger – nicht nur wegen der in Kraft tretenden EU-Batterieverordnung.

Haben wir überhaupt genügend Rohstoffe oder müssen wir langfristig gar auf anderes Material als Lithium setzen?

Aktuell haben wir ausreichend Rohstoffe für die Produktion von Lithium-Ionen-Batteriezellen. Da mehr als 70 Prozent der Zellkosten inzwischen auf die Materialien entfallen, können wir einen generellen Trend hin zu besser verfügbaren und damit auch kostengünstigeren Zellmaterialien beobachten. Ein anschauliches Beispiel dafür ist Kobalt, das mit Kosten von derzeit etwa 50.000 Euro pro Tonne zu Buche schlägt und deshalb als Kathodenmaterial zum Großteil durch Nickel ersetzt wird. Wurden früher Nickel, Mangan und Kobalt im Verhältnis eins zu eins zu eins als Kathodenmaterial mit der entsprechenden Bezeichnung „NMC-111“ eingesetzt, geht der Trend heute hin zu kobaltfreien Zellen, auch bekannt unter der Abkürzung „NMX“ beziehungsweise „NMC-910“. Problematischer ist vielmehr, dass einzelne Rohstoffe nur in wenigen Regionen der Welt abgebaut werden. Hier gilt es, in Zukunft die Resilienz europäischer Lieferketten beispielsweise durch eine effiziente Kreislaufwirtschaft zu erhöhen. Außerdem schreitet die Erforschung neuer Zellmaterialien zügig voran. Die Natrium-Ionen-Batterie verspricht, durch gut verfügbare Rohstoffe die Zellkosten gegenüber der Lithium-Ionen-Batterie nochmal deutlich zu senken.

Batterien sind aktuell der größte Kostentreiber im Elektroauto. Wann können wir mit einer Kostenreduktion rechnen, und wovon ist sie abhängig?

Die Kostenreduktion ist schon seit Jahren im Gange und wird durch die weiter steigenden Stückzahlen und neue Technologien unterstützt.

Eine große Bedeutung kommt auch dem Recycling zu, mit dem sich Ihr Lehrstuhl PEM schon seit einigen Jahren beschäftigt. Wie weit sind wir hier eigentlich? Gibt es inzwischen eine etablierte, standardisierte Prozesskette in Europa? Und wie hoch sind die aktuellen Recycling-Kapazitäten?

Beim Batterie-Recycling beobachten wir mittlerweile einige Bewegung im Markt: Stand das Thema vor einigen Jahren noch nicht im Fokus der Unternehmen, weil der Markt damit beschäftigt war, die Fahrzeuge überhaupt erstmal auf die Straße zu bringen und es somit noch keine nennenswerten Rücklaufzahlen gab, sehen wir inzwischen deutlich mehr Marktteilnehmer im Batterie-Recycling. Trotzdem lässt sich ein markanter Unterschied zum Bereich der Batterieherstellung feststellen: Die Größe der Recycling-Fabriken und der damit korrelierende Invest hinkt deutlich hinter dem des Produktionsbereichs her. Das wird sich im Laufe des Jahrzehnts allerdings ändern, und wir werden auch im zweiten Teil des Batterie-Lebenszyklus mehr Gigafabriken für „Re-X“ sehen – also für Re-Use, Remanufacturing und Recycling.

Welche Möglichkeiten ergeben sich für Batterien, nachdem sie für den weiteren Einsatz im Elektroauto unbrauchbar geworden sind?

Ihnen steht prinzipiell ein „zweites Leben“ in einem „Second Life“-Energiespeicher offen. Beim Aufbau solcher stationärer Batteriespeicher können wir momentan zwei wesentliche Optionen beobachten. Zum einen können die Batteriepacks – so wie sie sind – aus dem Fahrzeug entnommen und direkt in eine stationäre Anwendung überführt werden. Das ist äußerst kosteneffizient, bedingt aber den Zugriff auf das Batteriemanagementsystem des Fahrzeugs und funktioniert nur dann, wenn die Systeme noch einen hohen „State of Health“ besitzen. Kann auf das Batteriemanagementsystem nicht mehr zugegriffen werden oder ist der „State of Health“ des Gesamtsystems zu gering, besteht zum anderen die Möglichkeit, die Batteriepacks zu öffnen, die Module einzeln zu testen und diejenigen mit hohem „State of Health“ in das „zweite Leben“ zu überführen.

Gibt es inzwischen verlässliche Analysen und Prognosen zur Degeneration von Batterien?

Die gibt es mittlerweile tatsächlich. Im Detail ist die jeweilige Degeneration von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängig – von der Zellchemie über die Umgebungsbedingungen bis hin zur Betriebsweise. An den Herstellergarantien von meist mindestens acht Jahren lässt sich gut erkennen, dass die Batteriesysteme deutlich länger halten als in vielen Stammtischparolen beschworen. Da der durchschnittliche Batteriesystemenergiegehalt pro Fahrzeug im vergangenen Jahrzehnt stetig zugenommen hat, verringert sich dadurch auch die zyklische Alterung, und bei der Degeneration rückt immer mehr die kalendarische Alterung in den Mittelpunkt.

Eine essenzielle Rolle nehmen Batterie-Testzentren ein. Ist Europa in dieser Hinsicht ausreichend ausgestattet?

Zum jetzigen Zeitpunkt beobachten wir, dass innerhalb Europas zunehmend Kapazitäten für die Prüfung und Homologation von Antriebsbatterien aufgebaut werden. Gleichzeitig nimmt allerdings die Zahl von Batterieentwicklungsprojekten und damit auch der Testkapazitäten-Bedarf stark zu. Das wird in den nächsten Jahren zu einem immer intensiveren Wettbewerb um die verfügbaren Testkapazitäten auf dem europäischen Markt führen. Wir gehen davon aus, dass die bereits bestehenden Prüfmöglichkeiten in den kommenden Jahren über die geplanten neuen Kapazitäten hinaus signifikant erweitert werden. Daneben ist davon auszugehen, dass sich weitere Unternehmen im strategischen Geschäftsfeld des Testens von Antriebsbatterien platzieren werden.

Weitergehende Einblicke ermöglicht der „Battery Atlas 2022“ auf insgesamt rund 20 Seiten. Das gemeinsam mit der Fachabteilung „Batterieproduktion“ des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) entstandene Werk steht als kostenfreier Download bereit.

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