"Ein ideales Smart Grid gibt es nicht"

Experteninterview – Montag, 21. September 2020

Sieben Fragen zum aktuellen Stand beim Aufbau intelligenter Netze in Deutschland an Arno Ritzenthaler, Geschäftsführer der Smart Grids-Plattform Baden-Württemberg

Herr Ritzenthaler, wie stellen Sie sich ein ideales Smart Grid vor?

Ein ideales Smart Grid gibt es nicht. Intelligente Energienetze haben unterschiedliche Anwendungsfelder und Gestaltungsnotwendigkeiten. Deswegen sprechen wir immer von Smart Grids im Plural. Je nach Zielgruppe existieren unterschiedliche Vorstellungen. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Aufgabe smarter Netze darin liegt, die Aktionen aller angeschlossenen Erzeugungs- und Verbrauchseinheiten über alle Netzebenen intelligent zu integrieren, um so die verfügbaren Ressourcen möglichst effizient zu nutzen und eine nachhaltige, wirtschaftliche und effiziente Stromversorgung zu gewährleisten.

Durch den konsequenten Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnik, von den Kraftwerken bis hin zu den Netzendpunkten, lassen sich verbraucherseitige Flexibilitäten sowie die immer größer werdenden Lastspitzen durch die vielen dezentralen und volatilen Einspeisungen auf Basis erneuerbarer Energien zuverlässig „orchestrieren“. Die intelligente Ertüchtigung der Energienetze ist einer der entscheidenden Punkte, um den sonst unweigerlich erforderlichen Netzausbau signifikant zu minimieren.

Wie ist der Stand der Entwicklung in Deutschland?

Auf technischer Seite stehen für eine ganzheitliche Umsetzung erprobte Systemkomponenten aus der Industrie zur Verfügung. Sie erlauben bereits, das aktuelle Netz grundlegend zu optimieren sowie den Netzbetrieb auf intelligente Messung schrittweise umzustellen und im nächsten Schritt zu steuern.

Weiterhin wurden bereits Festlegungen zwischen Übertragungsnetzbetreibern und Verteilnetzbetreibern getroffen, die erforderlich sind, um resiliente Netze bei Systemengpässen sicherzustellen. Sie wurden unter anderem im Projekt DA/RE (Datenaustausch und Redispatch) erprobt. Ziel ist es, dezentrale Flexibilitäten beim Redispatch zu nutzen. Im Rahmen verschiedener Leuchtturmprojekte wurden in den vergangenen Jahren deutschlandweit mehr als 200 Millionen Euro für den Aufbau verschiedenster autonom agierender, aber voll integrierter Netze eingesetzt, um die Möglichkeiten und die Robustheit von Smart Grids bei unterschiedlichen Netztopologien zu belegen.

Woran hapert es noch bei der Realisierung intelligenter Energienetze?

Einer der wichtigsten Schritte bei der Umsetzung von intelligenten Netzen ist die Digitalisierung an den Netzendpunkten und die breite Akzeptanz der neuen Technik bei Nutzerinnen und Nutzern. Der hierfür als Grundlage erforderliche Smart Meter-Rollout läuft aktuell leider bei den meisten Messstellenbetreibern erst an. Grund hierfür war bis Anfang des Jahres in erster Linie das Fehlen der zertifizierten Smart Meter von drei verschiedenen Anbietern, welche für die Rollout-Freigabe notwendig waren. Ohne diese systemische Infrastruktur, gepaart mit dem Angebot neuer lastabhängiger Tarife und anderer Mehrwertdienste, die vor allem den Verbraucherinnen und Verbrauchern für Komfortfunktionen zur Verfügung gestellt werden müssen, wird sich die Notwendigkeit von mehr Intelligenz im Versorgungsnetz nur schwer vermitteln lassen.

Ein weiteres Hemmnis ist in den oft nur sehr rudimentär mit Messtechnik und Sensorik ausgestatteten Ortsnetzen zu sehen. Die Nachrüstung durch die Netzbetreiber wird jetzt aktiv in Angriff genommen.

Sind Smart Grids wirklich intelligent oder können sie „nur“ Daten von Energieerzeugenden, Prosumern sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern sehr schnell verarbeiten und abstimmen?

Die Intelligenz entwickelt sich erst über das eingangs erwähnte „orchestrieren“ aller verwertbaren Systemparameter. Mittels der künftig entstehenden Transparenz über alle relevanten Netzkenngrößen helfen individuell entwickelte Rechenalgorithmen, die Netze optimal auszuregeln. Hierbei steht die Systemstabilität grundsätzlich an oberster Stelle, gleich danach die möglichst effiziente Nutzung der verfügbaren Energie.

Dennoch müssen Daten zwischen den Beteiligten eines Smart Grids ausgetauscht werden. Wie steht es aktuell um die Datensicherheit?

Allen Verantwortlichen ist klar, dass den Themen Cybersecurity (Internetsicherheit) und Privacy (Datenschutz) eine Schlüsselrolle zukommen muss, um den erfolgreichen Umbau der Netze und somit das Gelingen der Energiewende zu schaffen. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik hat, auch nach Einschätzung vieler Expertinnen und Experten, weltweit einen der höchsten Sicherheitsstandards etabliert. Das war einer der Gründe, der mitverantwortlich für die massive Verzögerung des bereits angesprochenen Smart Meter Rollouts war.

Sehen Sie Smart Grids eher als lokale Versorgungssysteme oder ähnlich groß wie heutige Versorgungsgebiete?

Viele der hierfür notwendigen Smart Grids-Komponenten sind bereits heute in großen Teilen des Versorgungsnetzes im Einsatz. Aber der Weg zu flächendeckenden intelligenten Netzen mit allen sich bietenden Features ist, wie im Übrigen die gesamte Energiewende, ein langer, sich stetig den Entwicklungen anpassender Prozess.

In einem ersten Schritt haben wir beispielsweise in unserem vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten SINTEG-Projekt damit angefangen, über autonom arbeitende Netzzellen stabile und lokale Versorgungen zu etablieren. Sie werden nach dem Motto „Global denken, lokal handeln“ betrieben und werden nun peu à peu zusammengeschaltet, so dass sie sich gegenseitig unterstützen und somit stabile und resiliente Netzeinheiten entstehen, die auf Sicht deutschlandweit ausgerollt werden können.

Worin werden die größten Herausforderungen bestehen, unser Energiesystem intelligent zu machen?

Mit einen der wichtigsten Punkte sehe ich darin, verbindliche Planungskriterien für die Netz- und Messstellenbetreiber festzuschreiben. Der bisherige Kostenverteilungsschlüssel der aktuellen Regulatorik zielt ausschließlich auf den Status Quo bezüglich Aufgabenerfüllung und erbrachter Qualität ab. Mit dem Wissen, dass künftig aber einige neue Anforderungen, wie zum Beispiel Systemdienstleistungen zur Integration von virtuellen Kraftwerken, erforderlich werden, bleibt viel Innovationskraft liegen, da ein nicht kalkulierbar hohes Risiko speziell kleinere Marktteilnehmende davon abhält, zu investieren.

Aus Kundensicht sehe ich die größte Herausforderung darin, die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der erforderlichen Maßnahmen mittels professioneller begleitender Kommunikation sicherzustellen.

Wenn die Regulierung die letzten Hürden beseitigt hat, damit die Hard- und Softwareentwicklung, die Energieerzeugung sowie die Verbraucherinnen und Verbraucher an einem Strang ziehen können, werden Deutschland und Europa aus der Test- und Demonstrationsphase herauskommen und endgültig in die Fläche gehen. Dann können wir in Zukunft von dem einen „Smart Grid“ sprechen, das die vielen kleineren Smart Grids integriert.

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